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Channel: Schwarze Limetten
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Der Tod lässt ausrichten, er sei verhindert

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"Ich werde jetzt sterben. Habt Dank für alles und macht es gut."

Das waren die letzten Worte, die wir von ihr hörten. Altenheim und Ärzte bestätigten die Situation.
Depressionen, Nahrungsverweigerung, massiver Gewichtsverlust, absoluter Verfall, Krankenhaus.

Das Tochterkind und ich fuhren also auf große Fahrt in die Stadt, die so weit von uns entfernt ist. Zumindest noch persönlich Lebewohl sagen, einmal noch in den Arm nehmen, einmal noch die Hand streicheln, einmal noch...
Es sollte anders kommen.

Die Fahrt dorthin war grauenhaft. Halb rechnete ich damit, dass uns unterwegs der Anruf erreichen würde, dass sie gestorben sei, dass wir zu spät kämen und der Tod schon vor uns da gewesen sei.
Wettlauf gegen die Zeit mit dem Tod.
Großes Lebenskino.

Nur schnell ein paar hundert Kilometer fahren, schnell ins Hotel, schnell die Sachen aufs Zimmer bringen, Schlüssel einstecken und ab ins Krankenhaus.

Wir stürmten halb ihr Zimmer und auf einem riesigen Krankenhausbett saß klein, schrumpelig und weiß, in einem viel zu großen Nachthemd mit lila Punkten darauf: meine Großmutter.

"Wir sind es!", stellte ich das Offensichtliche fest und nahm sie in den Arm.

"Ich will dir mal eins sagen, Kind!", zeterte sie als Begrüßung los: "Der Tod will mich anscheinend nicht!"

Ich schnaufe ein wenig amüsiert, als ihre Bettnachbarin zusammenzuckt und murmelt: "Das sagt man doch nicht..."

"Die ist noch grün hinter den Ohren. Erst 86. Hier!"
, fuchtelt Oma mit ihrer Leberwurststulle vor meiner Nase herum. "Setzt euch und erzählt mir, warum ihr hier seid!"

"Ähm. Oma. Du hast gesagt, du stirbst jetzt einfach? Das geht doch nicht ohne tschüss zu sagen..."  Sie lacht.
Das Tochterkind sammelt sich ob einer sehr fidelen und motzigen Urgroßmutter, die weit von dem entfernt ist, auf das ich sie auf der Fahrt hierher schonend vorbereitet habe.

Sie isst. Trinkt. Bewegt sich.
Es scheint besser zu gehen als im Heim, in dem sie sich auch nach drei Jahren noch nicht eingelebt hat.
Trotz Medikation gegen ihre Depressionen, trotz Ablenkung. Es ist nicht ihres.
Sie hat es sich nicht ausgesucht, von meinen Eltern dort hineingesteckt zu werden und dann nichts mehr von ihnen zu sehen.

Sie will seit langen Monaten nur noch sterben, ich weiß das.
Wir sprechen jedes Telefonat darüber, doch es klappt einfach nicht.

Doch noch nie war es so ernst wie dieses Mal.
Sie hat alles verschenkt, alles geregelt, sich von allen verabschiedet.

Ein hellwacher Geist in einem langsam verfallenden Körper.
Es ist ein Alptraum, der sie nicht mehr loslassen wird.

"Ich gehe nicht mehr zurück ins Heim.
Kuck mal, ob man die Fenster öffnen kann. Das ist doch der 6. Stock, oder?"

Ich seufze. "Du kommst doch nicht mal aufs Fensterbrett, Oma."

"Ach Scheiße!"
, flucht sie laut und ihre Zimmernachbarin starrt sie mit weit aufgerissenen Augen entsetzt an. 

Neun?

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Natürlich haben der Mann und ich überlegt, ob wir sie nicht einfach hierher holen können. Auch unter diesem Aspekt beobachte ich sie während der Tage, die wir in der großen Stadt sind.

Schätze ab, wieviel Hilfe sie benötigt. Ob ich das leisten könnte.
Zusätzlich zu den eigenen vier Kindern, den zwei Zusatzkindern, Haus, Garten, Tieren und Ehrenamt.

Ich springe ins kalte Wasser. Ausziehen, anziehen, umziehen, waschen, zur Toilette bringen. Ich habe vorher Youtube-Videos angesehen, wie man das macht. Für irgendwas muss das ja gut sein.
("Die machen Tutorials für ALLES, Mama!", erklärte mir das große Kind professionell und so ist es tatsächlich)

Es ist überschaubar, aber fordernd. Wenn sie aktiv ist, ist sie es im wahrsten Sinne des Wortes. Aufstehen, zum Tisch, auf den Stuhl, einmal essen, trinken, Tabletten, zur Toilette, waschen, wieder zurück. Über das Weltgeschehen diskutieren, über Donald Trump herziehen, die Flüchtlingssituation erörtern, großer Bogen zum zweiten Weltkrieg,  als sie im Februar des letzten Kriegsjahres die Weserbrücken zerbombt haben. Zurück in die Gegenwart und in den Krankenhausalltag.

Wenn sie dann erschöpft ist, dann kippt ein Schalter um, der sie in den Dämmermodus versetzt. Zack. Noch kurz ins Bett, winken, bis später.
Dann gehen das Tochterkind und ich für drei Stunden in die Innenstadt, essen, bummeln und haben Spaß und finden sie beim Ankommen im Krankenhaus genau so, wie wir sie verlassen haben.

Das ginge dann auch nicht mehr.
Wenn sie hier zuhause wäre.
Oma kann nicht alleine bleiben.

Können wir das leisten? Wir haben eine absolut belastende Situation mit den Zusatzkindern hier und sind aus-gelastet. Andererseits läuft für Oma die Zeit. Ich will nicht, dass sie auf Dauer wieder ins Heim zurück muss. Wir würden denselben Zyklus von Depression, Verfall und Aufpäppeln im Krankenhaus doch immer wieder erleben. Alleine leben kann sie auf gar keinen Fall mehr. Zu viel ist vorgefallen.

Der Mann und ich sind ratlos, alle beide.
Auf der einen Seite steht der Kopf, auf der anderen Bauch und Herz.
Wer wird Recht behalten?
Für das Richtige plädiert bei uns keiner mehr.
Das ist letztes Jahr schon schief gegangen.

Wie ich einmal einem Internettroll die Stützstrümpfe hochzog

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Es passiert ja eher selten, dass Oma sprachlos ist.

Aber als die neue Zimmernachbarin im Krankenhaus laut schimpfend und um sich schlagend in einem Rollstuhl ins Zimmer gefahren wurde, blieb selbst ihr der Mund offen stehen und sie hörte mitten im Satz auf zu reden.

"Ich kann nicht hierbleiben! Ich muss an meinen Computer!"


Die große Frau, die im Rollstuhl saß, hatte wirres graues Haar, eine dicke Warze und eine Lesebrille auf der Nase, einen babyblauen Strickpullover, eine Windel und Stützstrümpfe an.
Sonst nichts.

"Ich.muss.an.meinen.Computer.", erklärte sie dem Pfleger, als wäre dieser geistesgestört. "Sie hatten einen Schlaganfall. Sie müssen jetzt im Krankenhaus bleiben und sonst nichts. Wir rufen ihre Angehörigen an, die können ihren Computer ja ausschalten.", antwortete er freundlich und es war, als hätte er in ein Wespennest gestochen.

"Sind Sie WAHNSINNIG???", brüllte die alte Frau ihn an. "Ich habe meine Texte von heute noch nicht abgeschickt!"

Der Pfleger hob sie mit einer Kollegin ins Krankenbett und mir wurde klar, dass das Tochterkind, Uroma und ich gerade sehr unhöflich starrten, als wären wir Schaulustige bei einem Autounfall.

Ich räusperte mich.
"Oma, wir gehen mal kurz raus, damit die Frau sich hier einrichten kann."
Oma sah mich entgeistert an.
"Dann verpasst du doch das ganze Schauspiel hier, Kind!"


Es muss schön sein, sich mit 90 keine Gedanken mehr über Umgangsformen machen zu müssen, denke ich so bei mir und schiebe das Tochterkind kurzerhand aus dem Zimmer.

Als immer mehr Schwestern und Pfleger ins Zimmer eilen und ich immer lauteres Gebrüll von drinnen höre, überlege ich kurz, ob ich Oma vielleicht retten sollte, aber das würde sie mir im Leben nicht verzeihen.
Nach einer viertel Stunde ist Ruhe. Ich sehe Klinikpersonal leicht derangiert aus dem Zimmer kommen und durchschnaufen.
Ich lächle den Pfleger aufmunternd an, der mir zunickt, wir könnten jetzt gerne wieder zu Oma gehen.

Leise und vorsichtig betreten wir das Zimmer.
Die Frau liegt in ihrem Bett, Bettwäsche und Kissen liegen im Zimmer verstreut. Sie scheint sie wütend rausgeworfen zu haben.
"Dieser Saftladen.", murmelt sie mit ihrer herben, dunklen Stimme vor sich hin. Allerdings schon längst nicht mehr so laut wie vorhin. Ob sie ihr ein Beruhigungsmittel gegeben haben? "Ich werde denen schon zeigen, was ich davon halte. Die werden schon noch sehen...", brummelt sie und scheint in einen Dämmerzustand zu wechseln.

Ich sehe Oma an.
Missbilligend schüttelt sie den Kopf. "Wie kann man sich mit 91 Jahren nur so aufführen?"

Ich ziehe die Augenbrauen hoch.

Oma thront in ihrem Zuhälter-Bademantel aus Leopardenplüsch und Fellbesatz an Kragen und Ärmeln in ihrem Bett und hat ihrer anderen Zimmernachbarin, die immer nur schläft, anscheinend wieder den Joghurt geklaut.
Sie löffelt gedankenverloren vor sich hin. "Schlimm, schlimm."

---

Einige Stunden später sind wir wieder im Krankenhaus.

Die Frau neben Oma ist wach - sehr wach - und hat Besuch. Ihr Sohn, vermute ich.

Die Art, wie sie den geschätzt fast 70jährigen durchs Zimmer scheucht, spricht Bände.

"Manfred. Du musst dir aufschreiben, wie die Leute hier heißen. Dann kann ich Beschwerden schreiben. Ich muss wieder an den Computer. Im Internetz kann man das machen. Ich brauche Namen!" Sie sieht erschöpft aus. "Namen, Manfred! Hörst du?"
Der Mann hat hochrote Wangen und sieht aus, als würde er sich extrem unwohl fühlen. "Du musst auch deinen Kindern Bescheid geben. Sie können mich heute Abend besuchen. Hörst du? Ich kann nicht lange hierbleiben! Ich muss unbedingt bald wieder nach Hause an den Computer."

Der Mann reicht ihr eine Tupperdose mit geschälten Äpfeln, die sie mit einer Zange herausnimmt und sich in den Mund steckt. "Das Essen hier ist so furchtbar. Ich muss nach Hause. Muss..."

Oma ist derweil nicht in ein Gespräch zu verwickeln, weil sie völlig fasziniert starrt. Und ab und zu den Kopf schüttelt.
 
Der Mann versucht mehrfach, sich zu verabschieden. "Du willst mich doch nicht unglücklich machen, und schon gehen, oder Manfred?" Er sieht sich hilfesuchend um. Fängt aber nur Omas Blick auf, die ihn neugierig ansieht.

Nach einer weiteren halben Stunde schafft er es endlich. Er hat noch einen Termin. Einen wichtigen. Und ja, er wird sich gleich die Namen der Schwestern aufschreiben. Und ja, auch die des Pflegers, der sie so grob misshandelt hätte.

Als er geht, ist es kurz still im Zimmer.
Die Frau fängt wieder an zu brummeln und mit sich selbst zu sprechen. Dass sie nicht hierbleiben könne. Und dass sie dem Krankenhaus mehrere schlechte Bewertungen schreiben würde. Die würden schon sehen, was sie davon haben.
Sie wälzt sich im Bett herum und strampelt die Decke weg.
Einer ihrer Stützstrümpfe ist heruntergerutscht und sie versucht, ihn mit steifen Armen wieder hochzuziehen.
Es klappt nicht.
Sie fängt an zu weinen.
Oma boxt mich sehr entschlossen in die Seite und schubst mich. "Geh mal helfen, Kind. Du siehst doch, dass sie das nicht schafft."

Ich sehe sie skeptisch an. Aber ihr Blick duldet keine Widerworte. Also gehe ich ein Bett weiter und warte, bis ich die Aufmerksamkeit der Frau habe. "Darf ich Ihnen helfen?", frage ich vorsichtig und mache mich darauf gefasst, dass sie etwas nach mir wirft.

Stattdessen strahlt sie mich an. "Das ist ja sehr nett von Ihnen. Sie sind doch keine Schwester hier, oder?"
Ich schüttle den Kopf. "Nein."
"Ja, dann machen Sie mal."
Ich ziehe ihr vorsichtig den Stützstrumpf hoch und sie lächelt erleichtert.
"Hach, das ist schön. Können Sie die Decke noch aufschütteln?"

Im frisch aufgeschüttelten Bett lässt sie sich in die Kissen sinken und wendet sich uns zu.

"Hier werden alle noch bereuen, dass sie mich so behandeln." Sie blickt Oma an. "Sind Sie auch im Internetz unterwegs?"

Oma antwortet, dass sie mit dem neumodischen Kram nichts am Hut hat.
Sie würde Fernsehen kucken.
Die alte Frau schüttelt den Kopf.

"Im Internetz ist es viel lustiger, als ständig vor der Röhre zu hängen. Ich bin den ganzen Tag da drin. In unserem Alter haben wir ja Zeit, nech? Morgens mache ich mir einen Kaffee und dann schreibe ich Kommentare. Auf Forummen. Auf Homm-Päitsches! Auf Blocks! Das ist so lustig! Niemand weiß, wer ich bin. Und dann regen sich alle auf und ich habe den ganzen Tag was zu lesen!"

Sie strahlt überglücklich und ich sehe sie fassungslos an.

Ich habe mich meine gesamte Internet-Zeit über gefragt, was Internettrolle wohl für Menschen sind.

Jetzt weiß ich es.

Wut

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Es gibt Tage, an denen so viel Wut hochkocht.
Wut, Hass, Trauer, Frust.
Aber vor allem: Wut.
Wut auf massive Versäumnisse und Erziehungsfehler einer Frau, die keine Antworten mehr geben kann, weil sie tot ist.

89 Jahre ohne Nutella

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Eine Woche ist sie nun schon bei uns.
Eine Woche inklusive Schimpfwörter, wie nur fast 90jährige sie von sich geben können, eine Woche Kriegserzählungen, eine Woche Anderswelt für die Kinder.
Eine Woche Arbeit, Stress und Sich-finden-müssen.
Eine Woche, die gut war.

Der Kobold hört sich tapfer alte Kriegsgeschichten an, Sirenen, die von Bombenangriffen künden, zerbombte Häuser, erfrorene Kinder, tote Fallschirmjäger, die in den Bäumen hängen.
Hitler, der plötzlich lebendig wird und so sehr im Kontrast zu dem geschildert wird, was in der Schule trocken in Büchern steht.
Erlebte Geschichte.

"Uroma, das ist ja alles supergruselig.", verkündet er.
Ich vergesse manchmal, dass ich von Klein an damit aufgewachsen bin und meine Kinder dieses Vorwissen nicht haben.
Alles ist neu, alles groß und erschreckend und auf erschreckende Weise auch faszinierend.

Wir sitzen beim Abendbrot.
Der Kobold hat natürlich Nutella auf seinem Platz stehen und natürlich schmiert er sich ein halbes Kilogramm davon auf sein Brot.
Wie könnte es auch anders sein.
Uroma sieht aus, als würde sie die Augenbrauen hochziehen, wenn sie noch welche hätte. Hat sie aber nicht.
"Dieses Nougatding hatten wir ja auch nie."

Der Kobold erstarrt.
Er versucht zu begreifen, was sie ihm da gerade erzählt. "Was meinst du damit?"

Uroma verkündet, dass sie noch nie in ihrem ganzen Leben Nutella probiert hätte und ich kann sehen, wie dem Kobold alles aus dem Gesicht fällt.
Fassungslos und entsetzt starrt er sie an und bemüht sich, die ganze Tragweite ihrer Aussage zu erfassen.
Langsam sickert es in sein Gehirn.
Er erschauert. Fast ehrfürchtig stellt er die Frage.

"Du meinst - du hast jetzt 89 Jahre lang ohne Nutella leben müssen?"


 Ich sehe, wie der Schrecken der vorangegangenen Kriegsgeschichten langsam der völlig verstörenden Erkenntnis weicht, dass es einen Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung gibt, der fast 90 Jahre lang auf Nutella verzichtet hat.
Neunzig.
Jahre.

Während ich am nächsten Morgen das Frühstück vorbereite, kommen sechs Kinder nacheinander zu mir in die Küche und animieren mich dazu, Uroma doch auf jeden Fall ein kleines Brot mit Nutella zu schmieren.

[Es schmeckt ihr]

Das taube Kind

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Es ist jetzt bald vier Jahre her, dass der schrecklichste HNO-Arzt der Welt mit gleichgültiger Stimme verkündete: "Das Kind ist taub. Operiere ich selber, nächste Woche, mal sehen, ob er dann hören kann oder blöde bleibt. Ist halt keine schöne Sache."

Es ist auch bald vier Jahre her, dass wir statt im Hinterhof des HNO-Arztes in einem großen Zentrum für HNO/Pädaudiologie alle zusammen um 6 Uhr morgens auf den Chirurgen warteten, der den närrischen kleinen Tuk zur ersten Operation seines Lebens abholen würde.

Erst ein Jahr ist es her, seit die letzte Operation vorgenommen wurde und das dumme taube Kind endlich ein einem gesunden Kind gleichgestelltes Hörvermögen bekam.

Wo die meisten Menschen abschalteten, weil sie sein Gelalle nicht verstanden haben, hatten wir an den richtigen Stellen Menschen, die gelernt haben, sein Gelalle zu deuten und ihn zu verstehen.

Eine beste Kindergartenfreundin, die über ein Jahr lang jedes Lallen in vollständige Sätze für die anderen Kindergartenkinder verwandelt hat. Weil sie ihn verstand.

Erzieherinnen, die Zeichensprache nutzten, Fortbildungen auf Gehörlosenschulen besuchten und geduldig jede Äußerung seinerseits interpretierten, bis sie wussten, was er meinte. Inklusive regelmäßiger Anrufe, dass er sich gerade "sehr doof fühlen würde", weil ihn niemand verstünde und bei denen ich kurz mit ihm sprechen konnte, bis es wieder ging.
Seit einem Jahr eine Logopädin, die in den ersten beiden Stunden so ratlos war wie selten in ihrer Laufbahn, wie sie mir versicherte.
Die heute Morgen, nach insgesamt nur 38 Stunden Logopädie sagen musste: "Unsere Wege trennen sich jetzt."

Auf unserem Weg lagen auch sehr sehr viele wohlmeinende Menschen mit sehr viel Meinung für sehr wenig Wissen.
Aber die zählen nicht.

Aktuell liegen all seine Testergebnisse weit über 90 %.
Er wird in diesem Jahr vorzeitig eingeschult.
Hat ein extrem großes Faible für Buchstaben und Zahlen.
Zählt im 10.000er Raum, rechnet im Hunderterraum, buchstabiert, liest und schreibt.
Und das ist nicht im letzten Jahr passiert, seit er hören und sprechen kann.
Das war schon immer in ihm.

Und dass wir seinen Weg mit Menschen gegangen sind, die ihm geholfen haben, diese Fähigkeiten auch ausdrücken zu können - lange, bevor er sprechen konnte - dafür sind wir jeden Tag so unglaublich dankbar. Und voller Demut.

Der vorletzte Umzug

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Interessiert sehen die älteren Damen mich an, als ich einen Umzugskarton nach dem nächsten aus Uromas Zimmer durch den Flur an ihnen vorbeitrage.

Sie sitzen auf den Sesseln im Empfangsbereich der zweiten Etage und blicken mir wortlos nach, als ich Karton um Karton in den Fahrstuhl trage.
Als ich kurze Zeit später mit den ersten Möbeln auf einem Rollwagen vorbeikomme, fasst sich eine von ihnen ein Herz und spricht mich direkt an.

"Hat sie's endlich geschafft?"

Mit anteilnehmender Miene und gleichzeitig voller Neugierde wartet sie auf meine Antwort.
Ich bin irritiert.
"Hat... was geschafft?"
, frage ich verwirrt.
Ich bin es ja gewohnt, dass hier andere Regeln für zwischenmenschliche Kommunikation gelten, doch die Dame vor mir macht eigentlich einen geistig recht fitten Eindruck.

"Na, ihre Großmutter. Hat sie es endlich geschafft? Mein Beileid."


Der Groschen fällt.
"Nein."
, grinse ich sie an. "Sie zieht nur um. Zu uns nach Hause. Das Heim ist einfach nichts für sie."

Es geht ein kollektives Seufzen durch die Sesselreihen neben mir.
Langsam tätschelt die alte Frau meinen Arm.
"Gott segne sie. Wir würden alle lieber zuhause sterben. Aber unser nächster Umzug ist der zum Friedhof."
Sie lächelt mich traurig an und mein Herz fließt fast über vor lauter Mitgefühl.

Die Sehnsucht nach einem Zuhause wohnt uns allen inne.
Und wenn es ans Sterben geht, dann sollte man an einem Ort Abschied vom Leben nehmen dürfen, der diesen Namen auch verdient.

Als ich wieder in Uromas Zimmer zurückkehre, wo sie mit dem großen Tochterkind bereits die nächste Kiste gepackt hat, blickt sie mich an und lächelt leise.
Ja.
Es war die richtige Entscheidung.

Kaffeekränzchen mit dem Tod

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"Kind, vielleicht sterbe ich heute. Ich bin schon seit Tagen so müde und könnte nur noch schlafen."

Ich sehe sie skeptisch an.

"Und Hunger habe ich auch ü-ber-haupt keinen. Nicht mal Appetit."


Ich schiebe die Schale mit Erdbeeren zur Seite und fange an, das Mittagessen abzuräumen.

"Die Erdbeeren nicht. Die lass mir mal für nachher noch da."

Ich grinse in mich hinein. "Und das Sterben?"

Sie blickt irritiert. "Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es gar nicht das Sterben. Vielleicht bin ich ja doch nur müde. Ich bin ja noch nie gestorben, wer weiß schon, wie sich das anfühlt..."

Die Kriegerprinzessin kommt herein und hört ihre letzten Worte. "Stirbst du heute schon?" Sie beißt von ihrem Muffin ab und wartet auf Antwort.

Uroma beäugt den Muffin. "Was isst du da?"

"Einen Kaffeemuffin von Papa, warum?"

Ich ahne schon, was kommt.

"Dann hol mir auch mal einen."

Ich nehme den leergegessenen Teller vom Tablett. "Möchtest du einen Kaffee zu deinem Muffin, Oma?"

"Ach, eigentlich habe ich ja überhaupt keinen Appetit. Aber bevor er mir so trocken im Halse stecken bleibt und ich dann daran sterbe... Das ist ja auch kein schöner Tod."

Als sie mit Kaffee und Kuchen in ihrem Bett sitzt, uns huldvoll  herauswedelt weil sie ihre Ruhe haben möchte und wir das Zimmer verlassen, flüstere ich dem kleinen Tochterkind zu: "Ich glaube, heute stirbt Uroma eher nicht."

Sie zwinkert mir zu:
"Naja. Zumindest nicht, so lange wir ihr genug Kaffee und Süßkram bringen..."


Verwaltungsirrsinn

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"Ist der/die Pflegebedürftige orientiert?"

Ich sitze an meinem Schreibtisch an der Seite 4 des Formulars des medizinischen Dienstes, der in Kürze feststellen wird, ob die knapp 90jährige mit Pflegestufe 2, die wir aus dem Altenheim gerettet geholt haben, eventuell nicht plötzlich doch wieder laufen, springen und sich selbst versorgen kann.
Haha.
Der Mann winkt beschwichtigend ab.
"Das müssen die kontrollieren, sonst könnte man ja sonstwas machen."
Achja? Was denn? Sie im Keller anketten und das ach so hohe Pflegegeld kassieren?
Mir fehlt da der Sinn für Humor, um nachvollziehen zu können, warum hier ein bestehender Pflegegrad kontrolliert werden muss.
Zumal es für die Pflegekasse deutlich billiger wird, weil ich ja umsonst arbeite.
Immerhin wird es auf meine Rente angerechnet. Hurra.
Vielleicht komme ich - nachdem ich seit 15 Jahren 6 Kinder großgezogen und eine Großmutter gepflegt habe - ja sogar auf 200 Euro Rente im Monat.
Später, wenn ich alt bin. Hossa, da freue ich mir aber einen Ast.
Mein Lebensmodell rentiert sich für alle, aber nicht für mich.

Zurück zu Frage 27.

Orientiert? Hm.

Als ich sie vor vier Tagen geweckt habe, hat sie Adolf Hitler ein Geburtstagsständchen gesungen.
Ja, sie weiß, welcher Tag da war.
Den Todestag meines Großvaters am Tag zuvor hatte sie vergessen.
Nach dem aktuellen Jahr fragt sie öfter mal, kann mir aber genau sagen, was das amerikanische Staatsoberhaupt für ein Arschloch ist.
Mit genau diesen Worten.
Ich werde entweder mit dem Namen meiner Mutter oder dem Namen meiner ältesten Tochter angesprochen.
Als meine große Tochter letztens ins Zimmer kam, wollte sie für ihre Physiotherapie unbedingt einen blauen Seidenblouson anziehen und fragte meine Tochter, warum sie denn nicht zum Termin gekommen sei.
Gestern hat sie mir eine halbe Stunde etwas von Harald erzählt.
Und was sie mit ihm besprechen möchte, wenn er gleich nach Hause kommt.
Nach ungefähr 20 Minuten habe ich gemerkt, dass sie von meinem Exmann redet, von dem ich seit 10 Jahren geschieden bin.
Ist die Frau orientiert?
Ich kann "Ja" ankreuzen oder "Nein".
Mehr nicht.

Ich verkneife mir gerade noch, beide Antworten durchzustreichen und in Großbuchstaben eine unflätige Bemerkung auf das Formular zu schreiben.

Sieben

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Noch sieben Mal.

Noch sieben Mal das kleinste Kind morgens in den Kindergarten fahren.

Nur noch sieben Mal.
Im Sommer wird es vorzeitig eingeschult und ich darf, kann.. endlich... nach 12 unendlich langen Jahren mit Kindergartenkindern morgens eine neue Routine anfangen.

Ich bin müde. Und sehnsüchtig.
Die Entscheidung für kein weiteres Kind ist unumstößlich.
So richtig.
Und doch sind sie da, die Momente, in denen ich von dem Mann, der der Mann heute ist, so unglaublich gerne noch einmal schwanger wäre.
Noch einmal in meinem Alter mit der heutigen Erfahrung ein Kind austragen würde.

Obsolet sind sie, diese Gedanken.
Zu viele Argumente sprechen dagegen, zu hart haben wir gekämpft und zu viele Kinder haben wir verloren.
Die Zeit des Kindergebärens ist vorbei.

Sieben Male noch.
Dann habe ich sechs Schulkinder.

Ich fühle mich alt.

Muße

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Ich brauche Zeit.
Nicht einfach nur mehr Zeit.
Ich brauche Zeit ihrer Selbst wegen.
Ruhe, Muße.
Nicht die zehn Minuten zwischendurch, die ich zwischen Toilettenstuhl, Einkauf, Putzen und Kochen hektisch am PC durch das Weltgeschehen surfen kann um nicht völlig durchzudrehen.
Nicht die fünf Minuten, die mir bleiben, bevor ich eines oder zwei oder drei von sechs Kindern von A nach B oder C bringen muss.
Nicht die halbe Stunde am Abend, wenn endlich alle Kinder im Bett sind und die Küche gemacht ist, bevor ich wieder hoch muss, weil ich eine hilflose bettlägrige Person für die Nacht vorbereiten muss.
Sondern Zeit.
Zeit, die keine Begrenzung kennt, keine Minuten zählt oder auf Stunden hofft.
Zeit, die mir zur Verfügug steht und die ich nutzen kann oder auch nicht.
Die mir nicht zwanghaft mit jedem TickTack in Erinnerung bringt, dass ich jetzt nur noch 20, 15, 10, 5... Minuten zur Entspannung habe bevor dann wieder das Chaos ausbricht.
Ich mag mein Hamsterrad gerade gar nicht.
Wir haben diesen Zustand selbst gewählt und selbst herbeigeführt.
Und wir haben eine Menge Fehleinschätzungen zu verbuchen, die letztendlich dazu geführt haben, dass wir die falsche Entscheidung getroffen haben.
Aus Fehlern lernt man, heißt es.
Ich kann darüber nur noch müde lächeln.
Wir versuchen, an unseren Fehlern nicht seelisch zugrunde zu gehen.

Vom nach dem Sterben

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Der weltbeste Notar und Anwalt öffnet uns die Tür und ich bin wie jedesmal
ein bisschen verliebt.
In das alte Haus, in die Stuckdecken, in seine weißhaarige alte Agentenfilm-Sekretärin und in ihn.
Seine Stimme, seinen Geist und sein enormes Fachwissen, das es nicht geschafft hat,
die Menschlichkeit aus seinem Herzen zu verdrängen.

Die letzten Jahre hat dieser Mann uns bei so vielen Dingen begleitet.
Beim Hausverkauf, beim Hauskauf, in den Auseinandersetzungen mit Exmann und Exfrau um Kindesunterhalt.
Beim Sorgerechtsprozess um die Zusatzkinder, kurz: in allen rechtlichen Belangen.

Und natürlich hat auch er unser Testament verfasst.

Hier leben sechs Kinder, zwei erwachsene Menschen und eine pflegebedürftige Person.
Wir haben drei Kinder. Der Mann hat fünf Kinder. Ich habe vier Kinder.
Zwei der Kinder sind Halbwaisen.
Ein sorgeberechtigter Elternteil lebt nicht in diesem Haushalt.

Es geht um Immobilienbesitz, Erbanteile, Pflichtteilsansprüche, Vorsorgevollmachten und Vormundschaften.

Er hat es geschafft, all unsere Wünsche auf vier Seiten Testament unterzubringen.

Die Unterschrift kommt mir fast bedeutender vor als damals bei der Eheschließung.
Dies hier fühlt sich schwerer an.
Erwachsener.
Der Mann setzt seine Unterschrift unter meine.
Der Notar seine darunter.

Er lächelt uns an:
"Auf dass diese Papiere möglichst lange in der Schublade bleiben!"

So möge es sein.

Glaubensfrage

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"Mamaaaa, wo wohnt Gott noch mal?"

Das kleinste Kind kräht mich noch halb verschlafen beim Frühstück an, weil es gerade über Weltall und Himmel und Wolken und Luft und Sonne und überhaupt sinniert hat.
Dabei kam ihm irgendwie in den Sinn, dass es den Platz für Gott wohl vergessen haben muss.

Bevor ich noch irgendetwas sagen kann, keift ihn das große Zusatzkind mal wieder reflexhaft an und belehrt ihn überheblich: "Es gibt keinen Gott!"

Ich seufze müde. Was hat man diesen Kindern nur angetan, dass sie anderen nicht ihre eigene Sicht der Dinge lassen können?

Das kleinste Kind zieht unbeeindruckt eine Augenbraue hoch.
Überartikuliert wendet es sich an die große Stiefschwester:
"Darum habe ich auch nicht dich gefragt,", erklärt es langsam, als würde es es mit einer äußerst ärgerlichen Form von Begriffstutzigkeit zu tun haben, "sondern Mama."

Ich entscheide mich, ihr abfälliges Seufzen und Augenrollen so früh am Morgen zu ignorieren.

"Gott ist überall, Butzemann. In mir, in dir, in allen Menschen, in jeder Blume, in jedem Tier, an jedem Ort. Im Weltall genauso wie hier auf der Erde."


"Das ist so schön, Mami!", freut sich der kleine Sohn und springt auf.

Ja. Das ist es.

Enttäuschung

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Mehr gehofft, zuviel erwartet und doch richtig geschätzt.
Nein, so eine Beziehung hätten wir nicht. Aber danke für alles.
Es piekt.

Außer Betrieb

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Ich wünschte, ich hätte die Worte für das, was in mir vorgeht.
Ich scheine auch sie verloren zu haben, wie so vieles im Laufe der letzten 12 Monate.
Ich wünschte, ich hätte die Worte, dem Mann zu sagen, wie tief meine Dankbarkeit für ihn geht.
Ich wünschte, ich hätte mich nicht selbst verloren auf dieser Reise, die nicht meine ist.
Ich bin in die falsche Richtung gegangen.
Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem es kein weiter und kein vorwärts mehr gibt.
Mein Körper und mein Geist haben die Waffen gestreckt.

Vom Schwindeln

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Vor fünf Tagen wachte ich auf und meine Welt kippte.
Ich öffnete die Augen und hielt mich voller Panik am Bett fest.

Ich hatte das Gefühl, nach oben gezogen zu werden und nach unten zu fallen.
Nichts war mehr in Ordnung.
Einen halben Tag lang konnte ich mir einreden, dass es vielleicht neue Zyklussymtome seien.
Oder einfach nur ein Scheißsonntag.
Wer weiß das schon.

Am nächsten Morgen und mehrere Panik- und Heulanfälle später war ich bereit, zum Arzt zu gehen, wohin mich der Mann auch auf schwankendem Boden verfrachtete.
Ich saß in einem kippenden Wartezimmer und sah nur noch verschwommen und betete, dass es irgendwas Harmloses sei.
Nacken? Schulten? Rücken? Waren die ersten Fragen des Hausarztes und ich verneinte, weil alles nur normal weh tat.
Da hätte es vielleicht schon klingeln können.
Eine halbe Stunde später hatte ich eine Überweisung zum HNO-Arzt und immerhin Tabletten gegen Schwindel, die bewirkten, dass ich todmüde wurde und die Schränke nur noch von links nach rechts schwankten.

Nachmittags saßen wir dann beim HNO-Arzt in der Praxis und ich tastete mich an den Wänden entlang Richtung Behandlungszimmer.
Nach lustigen Spielchen mit einer Brille sagte der Computer, dass mit meinem Gleichgewichtssinn alles in Ordnung sei.
Der Arzt machte noch mehrere Tests und erzählte mir irgendetwas, das ich nicht verstand. Drückte mal hier, mal dort und erklärte mir, dass meine Augen zucken, wo sie nicht zucken sollten, wenn ich etwas fokussiere.
Stress, stellte er mehr fest als dass er fragte.
Ich nickte beklommen. Joah, schon.
Er nahm seinen Daumen und drückte mir zielstrebig in die Halsseiten.
Alle meine Nervenenden schrieen gepeinigt auf.
Ha!, machte er triumphierend und freute sich.
Ich mich nicht so.
Ich wurde in ein anderes Zimmer gebracht und auf einen Stuhl verfrachtet.
Spritzen. Betäubungsmittel für die Nervenstränge, die sich da in meiner total verhärteten Nackenmuskulatur eingeklemmt hatten und dafür sorgten, dass ich liegenblieb, weil meine Welt sonst schwankte.

Die Lektion kommt so lange wieder bis wir sie verstanden haben.


Bei der ersten Spritze dachte ich, ich muss ihm schreiend vom Stuhl springen und dann machte der Muskel plötzlich "ping" und meine Welt hörte auf, sich zu bewegen.
Die Entspannung war kaum zu ertragen.
Er kippte den Stuhl in Liegeposition und sagte: "Genießen Sie es!".

Was folgte, war ein Gespräch über meinen Stress. Nicht, dass ich dieses Gespräch nicht schon jedesmal mit jemandem geführt hätte, wenn mein Nacken oder meine Schultern oder mein Rücken mal wieder bis zur Besinnungslosigkeit wehgetan haben. Aber es war, als würde ich das erste Mal zuhören können.

Meine Welt kippt.

Und ich bin die Einzige, die etwas dagegen tun kann.

Ich kann die Umstände nicht ändern. Ich kann die Probleme nicht wegzaubern.
Aber ich kann entscheiden, mit beidem anders umzugehen als bisher.

Zeugnistag

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Letzter Schultag, Zeugnistag.

Die Zeugnisgeschenke sind verpackt und liegen hier.
Nicht für gute Noten, sondern für die täglich absolvierte Arbeit.

Für Pflichtbewusstsein und die Fähigkeit, auch mal an bescheuerten Tagen und ohne viel Lust den Schulalltag absolviert zu haben.

Kind6 mault ununterbrochen, dass es ja nun eigentlich schon ein Schulkind sei und mokiert, noch kein Zeugnis bekommen zu haben.
Dabei fällt mir ein, dass ich ihn mal dazu zwingen sollte, mit mir endlich mal Schulranzen begutachten zu fahren...

Das Zeugnis von Kind5 habe ich schon vor einigen Tagen gesehen, es ist und bleibt wie erwartet ein absoluter Überflieger.
Kann alles, weiß alles, ist beliebt, hat Freunde, hilft und lebt den jähzornigen Dickkopf anscheinend nur hier zuhause in schöner Regelmäßigkeit aus.
Genie und Wahnsinn und so.
Sie ist ein Kind, das sich gerade in Tiere so gut einfühlen kann, dass mir manchmal vor Ehrfurcht die Luft wegbleibt. Das bezieht sich zwar weniger auf den Chaosbruder, aber auf alle anderen Wesen. Sie kann mit bissigen Pferden so gut umgehen wie mit Hasen, Hunden, Katzen, sammelt grundsätzlich jedes noch so zerfledderte Tier ein und hat große Fortschritte darin gemacht, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren.

Kind4 hat sein erstes Jahr auf der weiterführenden Schule gut überstanden und mein Sorgenbaby hat es geschafft, vom schulehassenden MotzKobold zu einem in sich ruhenden sensiblen Fast-Teenager zu reifen, der viele gute Freunde hat (die hier mitunter fast wohnen) und der auch in der Schule gut mitkommt. Mal gibt es eine Fünf, mal gibt es Einsen, im Normalfall pendelt er zwischen guter und befriedigender Leistung.
Er behauptet sich auf dem Schulhof auch gegen große Fieslinge und stellt sich aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit auch vor seine Freunde.
Er ist großartig. Hochsensibel und endlich in seiner Mitte.

Kind3 - Zusatzkind2 - wird auch hier wieder versuchen, nicht aus der Masse hevorzustechen.
Ich erwarte viele Dreien und Vieren und keine besonderen Bemerkungen.
Er ist einer von Vielen und möchte auch nichts Besonderes sein.
Darauf wurde er in seinem früheren Leben programmiert und daran arbeiten wir mit der Familientherapeutin.
An Interesse, Gefühl und dem Gespür für das eigene Ich. Der Weg ist noch lang.

Kind2 - meine strahlende Erstgeborene und Dramaqueen, Giftbeere und Kronprinzessin - ihr Zeugnis wird sie wiederspiegeln.
Einsen, wo ihr Interesse brennt, Dreien, wo sie keine Lust hat.
Und endlich eine Oberstufenschülerin.
Sie besucht eine Schule, deren Anspruch hoch ist und ich bin sehr zuversichtlich, dass sie die letzte Strecke zum Abitur mit Bravour absolviert.
Ihr Freundeskreis ist über die Jahre gewachsen und gefestigt, ich liebe und schätze alle ihre guten Freunde sehr.
Sie kann ihre Bedürfnisse kommunizieren, ist ein absoluter Kopfmensch mit viel Herz.
Sie treibt mich zur Verweiflung und in den Wahnsinn und ihr 10-Jahresplan mit Auszug nach dem Abitur und Studium und Wohnungseinrichtung und Nebenjobs erfüllt mich mit Stolz und Wehmut gleichermaßen. Sie ist doch noch so klein...

Kind1 - Zusatzkind1 - hat einen ähnlich schweren Rucksack zu tragen wie Zusatzkind2.
Sie wird ein absolutes Vorzeigezeugnis mit nach Hause bringen.
Nur Einsen und vielleicht in Sport eine Zwei oder Drei, für die sie sich innerlich zerfleischen wird.
Sie hat die Gabe, schreiben zu können, hoffentlich endlich für sich angenommen und kommt langsam aus sich heraus. Ihr Fokus liegt auf Träumereien und allen Dingen, die nicht Gefahr laufen, Realität werden zu können. Sie ist in der Lage, komplexe Zusammenhänge aus jedem Wissensgebiet schriftlich darzulegen, aber sobald man sie etwas fragt, das auch nur im Entferntesten die Gefühlsebene streifen könnte, verwandelt sie sich in ein kleines schwarzes Mäuschen, das man unter Androhung von Schlägen in einer Fremdsprache nach dem Weg gefragt hat.
Auch hier bin ich dankbar für die Frau, die uns inzwischen schon ein Jahr als Therapeutin begleitet.
Ihr Weg wird deutlich länger werden, auch darum bin ich glücklich über das zusätzliche Jahr, das ihr nächsten Sommer durch den Schulwechsel auf die höhere Schule zu Kind2 geschenkt werden wird.
Es wird sicher nicht immer einfach sein, eine Klasse unter der eigentlich jüngeren Stiefschwester zu sein, aber ich bin zuversichtlich, dass wir das gut begleiten können.

Ich bin heute sehr dankbar für diesen letzten Schultag.

Ich freue mich darauf, 6 Wochen lang NICHT jeden Tag morgens bis zu 11 Frühstücks- und Mittagsdosen herrichten zu müssen und auch einfach mal bis 7 Uhr morgens liegen bleiben zu können.

Ich war noch nie so urlaubsreif wie dieses Jahr.

Mein geliebter Held,

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als ich noch klein war, da hast du immer gesagt:

"Wenn Oma mal tot ist und ich ganz alt bin, dann komme ich zu dir. Du kümmerst dich dann um mich."


Und ich sagte jedesmal: "Na klar. Aber jetzt bist du ja noch fit!"

Dann nicktest du und deine großen Pranken schlossen sich wieder sanft um mich.

Jetzt ist 30 Jahre später, Opa.

Du hast dein Versprechen gebrochen.
Du hast gesagt, du stirbst nicht, bevor ich nicht bereit dafür bin.
Und du bist als erstes gestorben.

Oma wohnt jetzt hier.

Als wir vor fünf Monaten die Entscheidung getroffen haben, sie zum Sterben zu uns zu holen, da war es auch der Tribut an dich, der mir diesen Weg so leicht machte.

Ich glaube nicht, dass du Oma allein lassen wolltest.
Aber du bist eben auch schon 8 Jahre tot.

Also beschloss ich, dass ich nun für sie da sein würde.

Sie lag in den letzten Zügen. Hat sich verabschiedet.
Und ja, ihre letzten Tage sollte sie nicht in diesem tristen Heimzimmer verbringen, in dem sie seit einigen Jahren lebte und seit Ende letzten Jahres nur noch vor sich hinvegetierte.
Eine Begleitung auf den letzten Metern. Absehbar.

Das ist nun vier Monate her und ich weiß inzwischen gar nicht so recht, wer hier mit uns lebt.

Es ist nicht die Oma, die ich von früher kenne.
Es ist auch nicht die Oma, mit der du verheiratet warst.
Der wir beide so viele Schandtaten beichten mussten, die meine Kindheit so bunt gemacht haben.

Ich unterhalte mich manchmal mit ihr über dich, aber es scheint, als hätten wir nicht denselben Menschen gekannt.
Als wäre nur ich da, die dich so abgöttisch geliebt hat.
Sie hat es nicht getan.
Wenn sie über dich spricht, zerreißt es mir mein Herz. Das bist nicht du.
Den Mann, der du für mich warst, den kennt sie nicht.

Es ist gerade schwer für mich.

Zerfaserung

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Es sind Sommerferien.

Ich erhole mich langsam von meinem Schwindel von vor drei Wochen und arbeite an der Stressreduktion.

Es ist 7 Uhr morgens.

Die Notfallklingel klingelt. Laut.

Ich falle aus dem Bett und hetze zum Empfänger, um ihn auszuschalten, bevor die Ferienkinder davon wach werden.

T-Shirt an, Hose an, bei Uroma rein.
Mit Lächeln auf dem Gesicht.
Es fällt an vielen Tagen inzwischen schwer, aber das muss außer mir ja niemand wissen.

"Guten Morgen, was kann ich für dich tun?"

- "Weiß ich nicht."


Gesicht zur Wand gedreht, mehr ein Krächzen als ein Flüstern.
Augen zu.

Es ist wieder einer dieser Tage.

Vor genau einem Monat hat sie ihren 90. Geburtstag gefeiert.
Seit drei Jahren wartete sie auf diesen Tag, weil mein Vater hoch und heilig versprochen hat, er würde sie dann noch einmal besuchen kommen.
Er kam nicht.

Zwei Tage später wurde sie bettlägrig.
Eine Woche später war der Arzt da.
Höhere Medikamentendosierung, Mobilisierung, Physiotherapie, Ergotherapie, weiß der Kuckuck was noch alles.
Verweigerung auf ganzer Linie.
Verweigerung bei der Körperpflege, Verweigerung bei der Lagerung, passive Aggression.
Jeden Tag ein bisschen weniger.
Eine, zwei, drei, vier Wochen.
Nahrungsverweigerung.
Und dann schließlich: Medikamentenverweigerung.

Unser Hausarzt befragt sie und erklärt ihr die Konsequenzen.
Wir klären die rechtliche Lage, die persönliche, die emotionale.
Freier Wille. Ihre Entscheidung.
Und ja, wir begleiten das..

Hier stehen wir nun und sehen dem Verfall zu.
Im Hinterkopf fragt mich eine müde Stimme, warum ich jetzt aufstehen musste.

Ich straffe die Schultern und lächle.

Wie jeden Morgen.

"Oma, du hast gerade geklingelt. Was können wir denn mal für dich machen?"


Schulterzucken. "Will sterben."

"Ja, ich weiß."
, antworte ich.

Sie schweigt.

Wie jeden Tag.

Mein freier Tag

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Die drei Chaoskinder sind momentan über Tag alleine mit mir und Uroma zuhause und haben sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen.

Meinen freien Tag.

Nach 15 Jahren Mutterschaft gibt es nur zwei Sachen, die alle meine Alarmglocken gleichzeitig klingeln lassen: Wenn "nichts passiert!!!" ist und wenn ich "nichts machen muss".

Ich bekomme also von dem 11jährigen Kobold, der 9jährigen Kriegerprinzessin und vom 5jährigen närrischen kleinen Tuk eine Liste mit Fragen vorgelegt, in der ich alles eintragen soll, was ich essen und trinken möchte und was getan werden muss.

"Abba nicht Uroma den Popo saubermachen!", kräht das kleinste Chaoskind und ich nicke ernst. "Abba sonst alles!"

Alle 10 Tiere versorgen, Frühstück, Mittagessen und Abendbrot machen, saugen und aufräumen und die Geschirrspüle aus- und einräumen.
Donnerwetter.
Die Drei hatten einen Plan.

Bislang kannte ich nur halbherzige Bekenntnisse und verschmierte Dinge, die in meinem Bett ausgekippt wurden, weil "alle Mamis lieben Frühstück im Bett, Mami!".
Aber sie hatten sich wirklich Gedanken gemacht.
Einschließlich des Punktes: Mama darf in Ruhe frühstücken wo sie will.

Ich greife mir einen Kugelschreiber und grinse. Das könnte gut werden.

"Und ich darf den ganzen Tag machen, was ich will?"

Drei Köpfe nicken.

"Also - außer, es ist was mit Uroma. Dann kannst du natürlich nicht im Bett liegen oder so."

"Na klar.", sage ich.

Ich fülle das Formular gewissenhaft aus und freue mich ein wenig.

Der freie Tag bricht an und ich falle in der Morgendämmerung erst einmal von Omas Notrufklingel aus dem Bett.

Aber gut, dann ist der freie Tag ja umso länger. Auch nicht schlecht.

Die drei Chaoskinder stehen fertig angezogen und gewaschen mit Leergut und Einkaufstüten und einem Portemonnaie vor mir, als wir aufbrechen wollen.
Der Kobold hakt die Checkliste ab und fragt mit strenger Stimme seine kleinen Geschwister ab:
Leergut? Check.
Tüten? Check.
Geld? Ich reiche lächelnd einen großen Schein in die Runde. Check.
Einkaufszettel? Check.

Wir fahren in unseren Lieblingssupermarkt und ich übe mich in Vertrauen, als ich die Drei völlig planlos durch die Gänge schliddern sehe.
Wir sind dort natürlich sehr bekannt und mir geht das Herz auf, als ich sehe, dass sie sich ordentlich an die Mitarbeiter wenden, wenn sie Hilfe brauchen.

Ich beschließe, noch ein Stück weiter loszulassen.
Ich kaufe mir ein paar Pflanzen, die es heute im Angebot gibt, lasse an der Kasse noch kurz die Information zurück, dass ich heute einen freien Tag hätte und die drei Kleinen gleich allein an die Kasse kommen würden und ich draußen im Auto warten würde, wenn was wäre. Gluckengefühle.

Die Kassiererin lächelt warm und winkt dem kleinsten Kind zu, das gerade mit einer großen Packung Eiscreme an der Kasse vorbeieilt und den Namen des großen Bruders ruft.
"Ihre Kinder sind so wunderbar."
Ich nicke. Ja, das sind sie.

20 Minuten später kommen die Drei endlich aus der Tür und schieben stolz ihren Einkaufswagen zum Kofferraum.
"Wir haben alles bekommen!"

Mir wird ein Berliner und ein heißer Kakao gereicht und bedeutet, ich könne ruhig auf dem Fahrersitz sitzenbleiben und mein Hörbuch weiterhören, während sie einpacken.

Große Liebe.

[geschrieben beim Brunch am Computer mit einem Laugenbrötchen mit Mayonnaise (sehr viel) und Käse (zu wenig), einer Flasche Wasser, weil sie das falsche Getränk gekauft haben und einem weiteren Berliner. Mit Musik und fast ungestört bis auf einen Notfall, als der Hund fast einen halben Liter Cola getrunken hätte und viermal Notfallklingel zwischendurch von Uroma, weil sie immer noch nicht gestorben ist. Läuft.]
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